«Ich opfere mich auf», das klingt nicht sehr cool. Eher nach «ich bin ein Opfer, eine Looserin». Ich kann nicht gut auf mich selbst aufpassen, kenne meine Grenzen nicht, oder setze keine. Ich stehe nicht für das ein, was mir gut tut.
Das ist aber genau das, was wir mühsam gelernt haben. Grenzen setzen, für sich selbst schauen, wissen, was einem gut tut, sich aus toxischen Beziehungen, Verstrickungen, Situationen zu lösen, um es mal mit einem Trendwort auszudrücken.
Vor sechs Jahren wurde ich schon mal mit dem Begriff konfrontiert, es ging damals um die Reduktion einiger Tätigkeitsbereiche in meinem Leben, um weniger verzettelt zu sein, mehr Fokus zu haben, weniger Verwirrung und Zeitnot. «Es geht nicht ohne Opfer», hat mir mein damaliger spiritueller Lehrer klipp und klar gesagt, «du musst bereit sein zu opfern». Diese Aussage hat mich damals bewegt, ich fand sie irgendwie krass und auch altmodisch. Vielleicht weil ich eben ein Kind meiner Zeit bin, das gerne alles hat, alles machen, können und erleben möchte, für das Selbstbestimmung in jedem Augenblick im Zentrum steht und das Opfergaben und Aufopferung als Relikte der Vergangenheit sieht.
Opfern bedeutet Dinge, Menschen, Tätigkeiten loslassen, dort wo es so richtig weh tut. Das zeigt sich zumindest so, wenn wir an die Geschichte von Abraham denken, der Gott seinen Sohn Isaak opfern sollte. Ein Kind zu opfern, opfern zu wollen, bereit sein, sein eigenes Kind zu opfern, um seinen Glauben zu beweisen? Moderne Menschen fragen sich unweigerlich, macht das Sinn?
Natürlich, es gibt auch die Situation des Bauernopfers, wo wir etwas oder jemanden opfern, das oder der uns nicht so viel bedeutet, was verschmerzbar ist, wir opfern etwas, um etwas anderes zu retten, was uns kostbarer scheint. Bei genauerer Betrachtung scheint dieses opfern aber nicht ein wirkliches Opfer zu sein, es ist mehr ein Abstossen von etwas, was uns sowieso nicht wichtig war oder ist.
Noch weiter in diese Richtung gehen wir, wenn wir andere opfern, um selbst keinen Verlust, keinen Schmerz, kein Leiden erfahren zu müssen. Zum Beispiel wenn wir andere der Lächerlichkeit Preis geben, um selbst besser dazustehen oder von uns abzulenken. Wenn andere ihren Job verlieren, damit wir unseren Lebensstandard nicht verlieren müssen. Wenn andere an unserer Stelle leider oder in letzter Konsequenz sterben sollen.
Wenn wir ehrlich sind, wissen wir, dass dies tatsächlich geschieht. Global gesehen haben wir hier in der Schweiz einen Lebensstandard, der bedingt, dass Menschen in andern Weltregionen dafür geopfert werden. Wir leben unser Leben so, dass wir einer ungewissen Zukunft entgegen sehen, es ist zwar nicht gewiss, aber doch wahrscheinlich, dass wir die das Morgen für das Heute opfern, wenn wir so weiter machen wie bisher, und somit opfern wir die nachfolgenden Generationen für unser momentanes Wohlbefinden auf. Aber auch im Kleinen ist zu fragen: wo opfern wir das Wohlbefinden, oder mehr noch die Würde und Integrität, sogar die Grundrechte anderer, damit es uns besser geht?
Und was passiert mit uns, während wir das tun? Was geht uns dabei verloren, welchen Einfluss hat es auf uns, wenn wir andere anstelle von uns opfern? Was für einen Einfluss hat das auf unser eigenes Leben, welche Konsequenzen hat es für uns? Was passiert dabei energetisch? Das ist letztendlich auch eine philosophische und eine spirituelle Frage.
Im Kleinen ist zudem davon auszugehen, dass auch wir immer mal wieder «Opfer» waren, sind und sein werden. Dass wir «geopfert» werden von andern, weil sie uns nicht wichtig finden, oder weil sie selbst nicht Leid erfahren möchten und es lieber andern übertragen. Also auch wenn wir nicht gewollt und bewusst «Opfer erbringen», so kann uns doch in einer Situation diese «Opferrolle» übertragen werden.
Im Grossen ist zu fragen, wann dürfen wir uns als «Opfer» sehen, wem ist dieser Titel zugedacht, ab welcher «Schwere von Leid», darf er verwendet werden?
In der Vergangenheit haben wir zudem gelernt, uns aus dieser Opferrolle zu befreien, uns nicht (nur) als Opfer zu sehen, sondern aus der Schockstarre, der Passivität in die Handlung und ins selbstbestimmte Leben zu finden. Kein Opferlamm zu sein, sich nicht aufzuopfern für etwas oder jemanden, es nicht als nötig zu ersehen, Opfer zu bringen.
Vor einigen Tagen hat mich das «Opfer bringen», das sich «Aufopfern für etwas» wieder angesprungen. «Wir alle opfern uns auf für etwas», hat der Supervisor bei einem Weiterbildungstag gemeint, «wir sollten einfach bewusst wählen, wofür wir uns aufopfern wollen». Sofort musste ich widersprechen. «Hingabe an eine Aufgabe, ja, auch sich in den Dienst stellen, okay, etwas mit Haut und Haaren, mit Leidenschaft tun, ja, aber «sich aufopfern»? Das schien mir dann doch zu weit zu gehen. «Aufopfern, das klingt richtig ungesund!», entgegnete ich. «Das impliziert doch schon, dass man über seine Grenzen geht, sich selbst verletzt, zumindest längerfristig gesehen».
Warum ich dem Supervisor letztendlich Recht geben musste und welche neuen Schlaglichter damit auf mein Leben geworfen werden, erfährst du demnächst hier im Text «Was wir opfern...».
Schreibanregung: Nutze die Wartezeit, indem du dich in einem Freewriting mit dem Begriff «Opfer» auseinandersetzt.
Du weißt schon, Freewriting bedeutet: wähle eine kurze Zeitspanne (z.B. 5 oder 10 Min), in der du ohne Unterbruch (am
besten von Hand) all deine Gedanken Wort «Opfer» aufschreibst, dann können philosophische Überlegungen, Erinnerungen, Wortspielereien, Annäherungen, Zusammenhänge, in denen das Wort eine Rolle
spielt, Fragen etc. sein. Sätze dürfen auch unvollständig bleiben, Stichworte sich aneinanderreihen, die Rechtschreibung ist egal. Wichtig ist, dass du keine Pause machst und unterbrochen
schreibst. Wenn dir nichts mehr in den Sinn kommt, wiederholst du das Wort «Opfer» so lange, bis deine Gedanken wieder in Fluss kommen. Folge deinem Gedankenstrom, zensiere
nichts.
© Jaël Lohri, 21.2.23
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